Lesedauer 4 Minuten

Sie fragen sich wahrscheinlich, wie soll Osteopathie mit Yoga vereint werden? Sind es doch zwei grundverschiedene Herangehensweisen. Die in den USA entstandene Osteopathie ist eine Heilkunst, bei der Patienten manuell behandelt werden. Yoga hingegen stammt aus Indien und wurde als spirituelle Praxis entwickelt. Ich möchte hier in zwei Teilen zeigen, dass trotz dieser völlig verschiedenen Ausgangspunkte, sich die Prinzipien der beiden Methoden in großen Teilen überschneiden. Wie ist das möglich?

Beide Methoden haben ein tiefes Verständnis grundlegender Funktionsweisen des Körpers. Möglicherweise haben die Entwickler jeweils tief in den Körper auseinander gesetzt und hineingefühlt.

Die Yogis haben so innerlich ein sehr subtiles Körpergefühl entwickelt und die Osteopathen von außen einen präzisen Tastsinn erlangt. Die Modelle und Ausdrücke unterscheiden sich entsprechend, beziehen sich aber auf das gleiche. Als Osteopath verwende ich das osteoapthische Vokabular.

Die Nervensysteme

Niklas_Osteopathie_1_lo

 

Beide Methoden wirken ganzheitlich auf das motorische sowie auf das vegetative Nervensystem und die jeweils verbundene Organe. Bitte lassen Sie nicht von den Begriffen motorisch und vegetativ abschrecken. Wie nähern uns beiden Nervensystemen in dieser Serie ganz behutsam. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit dem motorischen oder auch willkürlichen Anteil. Die Erfolgsorgane sind unsere Muskeln wie beispielsweise der Bizeps, den wir bewusst an- und entspannen können.

Teil I

Muskelketten und Faszien

Romana_Neroberg_herabschauender_Hund_04_2015Sowohl im Yoga als auch in der Osteopathie sind wir uns bewusst, dass funktionell das Anspannen einzelner Muskeln fast unmöglich ist. Deswegen reden wir in der Osteopathie von Muskelketten. Um eine Yogapose einzunehmen, verlangt es das bewusste an- und entspannen einer ganzen Reihe von Muskeln. Beim hinabschauenden Hund (Adhomukhashvanasana) wird beispielsweise die gesamte hintere Muskelkette gedehnt. Gleichzeitig werden die Muskeln im Oberschenkel, dem Bauch und zwischen den Schulterblättern angespannt.

Hier zeigt sich ein ganz anderes Prinzip als beim Bizepstraining mit Hanteln, bei dem der Muskel möglichst isoliert trainiert wird. Selbst wenn wir ausschließlich versuchen den Bizeps anzuspannen, kontrahieren zumindest leicht Teile der Schulter- und Unterarmmuskulatur. Probieren Sie es aus. Das heißt das motorische Nervensystem steuert Muskeln in Ketten und nicht etwa einzeln an, weil sie praktisch immer so genutzt werden.

Die Einteilung in einzelne Muskeln hat didaktische Zwecke, die wie oben beschrieben funktionell mit der Realität nichts zu tun hat. Selbst strukturell können die Muskeln nicht scharf voneinander getrennt werden. Jeder der nicht nur Anatomieatlanten gewälzt, sondern zudem Leichname präpariert hat, weiß dass Muskeln, Sehnen, Bänder und Faszien fließend in einander übergehen. Unter Sehnen und Bänder können Sie sich sicherlich etwas vorstellen. Faszien sind jedoch bislang nicht sehr bekannt.

Falls Sie kein Vegetarier sind, haben Sie diese Muskelhaut beim Kochen schon häufig unwissend „freipräpariert“. Faszien sind der dünne weißliche Film, der Hühnerschenkel und alle anderen Muskeln ummanteln. Auf dieselbe Weise wird der menschliche Körper von diesem Fasziennetzwerk umhüllt und durchdrungen. Sie verbinden nacheinander geschaltete Muskeln und ermöglichen das gleiten von nebeneinander liegenden muskulären Gegen- und Mitspielern.

“Faszien-Fuzz”

Die fasziale Gleitfähigkeit kann durch den so genannten „Fuzz“ eingeschränkt werden. Anatomieenthusiast Gil Hedley hat diesen nicht ganz wissenschaftlichen Begriff in seiner “YouTube-Fuzz-Speech“ geprägt. Allen Interessenten kann ich dieses englischsprachige Video empfehlen:

(weise aber darauf hin, dass Leichname seziert werden).

„Fuzz“ sind dünne Verklebungen, die sich über Nacht zwischen den Faszien aufbauen. Wenn wir uns morgens räkeln und stecken, also unserer Yoga Praxis nachgehen, schmelzen wir diese Verklebungen.

An Schwachstellen und durch längere Inaktivität, kann sich „Fuzz“ über Wochen und Monate aufbauen, was zu Bewegungseinschränkungen und Schmerzen führt. Durch die Muskelketten kann sich dieser ziehende Schmerz buchstäblich von Kopf bis Fuß fortsetzen. Meist reicht Yoga um diesen alten „Fuzz“ zu schmelzen. Sehr starke Verklebungen können durch die Osteopathie gelöst werden um die Beweglichkeit wiederherzustellen und den Schmerz zu lindern. Hierbei wird immer die komplette Muskelkette befreit, weil sie nur in ihrer Gesamtheit behandelt werden kann.

Für mich ist es sehr faszinierend wie zwei Systeme, die völlig getrennt voneinander entwickelt wurden, dieselben Mechanismen nutzen. Der Unterschied liegt allein in der Herangehensweise. Osteopathie funktioniert rezeptiv, während Yoga aktiv betrieben wird. In ihrer Zusammenführung liegen tolle Möglichkeiten in der ganzheitlichen Selbstheilung. Im zweiten Teil der Serie lernen wir, wie das jahrtausendealte yogischen Energiesystems den Entdeckungen über das vegetative Nervensystem gleicht und wie sich Yoga und Osteopathie dies zu Nutze machen.